Die Liste der nicht gelesenen oder nicht zu Ende gelesenen Bücher war noch lang. Da hatte Franz Glück. Was sollte er auch lesen, wenn er alle Bücher, von denen er glaubte, sie irgendwann gelesen haben zu müssen, schon gelesen hätte. Er war ganz froh, so noch ein paar Bücher in der Hinterhand zu haben. Für später. Für irgendwann. Wenn die Zeit käme für diese noch nicht gelesenen Bücher. Er hatte sich keine Liste gemacht. Aber ein paar vielen ihm immer ein. So machte er sich keine Sorgen. Eines Tages würde er vielleicht diese oder jenes Buch gelesen haben. Möglicherweise, es war nicht ganz ausgeschlossen, käme derweil noch das eine oder andere Buch dazu. Er könnte sich auch eine Liste machen und diese gezielt durcharbeiten. Doch das war nicht sein Ziel. Die Zeit würde es mit sich bringen, ob und wann er das eine und oder das andere Buch lesen würde. Bis dahin machte er sich erst einmal einen Kaffee. Nebel zog auf. Gefrierender Nebel. Sah ein wenig wie Schnee aus. Ein wenig.
Glück
nachtgesang
das dunkle der nacht, der
sohn des kronos bringt dem
achilleus das leierspiel bei
das wild des waldes durchzieht
die finsternis, der augustdonner
lässt verkriechen die menschen
hinter der ofenbank, das mondlicht
schimmert fahl, in seinem glanz
tanzen die totengräber, du erzählst
von liebesleid? die wollust verflogen
das geklimmpere auf dem klavier
verstummt, hölderlins glück
zum teufel gejagt, deine küsse
geben keinen halt, der wind pfeift
durch die blätter
Als Nietzsche kam nach Sils Maria
Als Nietzsche kam nach
Sils Maria und wanderte
über Tal und Berg, der Sonne
entgegen und dem Mond
den Schatten kommen sah und gehen
da wurde fröhlich ums Herz
ihm, die Gedanken fingen an
zu kommen, als wär gesund
er und trunken vor
Glück, die Heiterkeit
umgab ihn, drob in den
Bergen, drob in Sils
Ein kapitaler Hirsch
Im Herbst geht der Schriftsteller auf Jagd. Großwildjagd. Keine Hasen oder so ein Gedöns. Hirsch, Reh, zur Not auch Gams. Nachts auf der Lauer liegend. Spüren, wie die Kälte in die Füße dringt. Die Handschuhe nur wenig gegen den Frost schützen. Zum Glück keine Nässe. Das Fernglas überwacht die Wiesen vor den Wäldern. Klapprig ist der Hochstand und wenig geschützt gegen den eisigen Wind. Hilft nichts. Für einen stattlichen Hirschen muss man Opfer bringen. Bald kommt die Morgendämmerung. Es wird langsam Zeit. Jetzt sollte aber wirklich. Da. Ein leises Knacksen. Aus der Böschung. Noch im Gestrüpp. Was für ein Geweih. Jetzt blos keinen Fehler machen. Langsam das Gewehr anlegen. Schon fallen dem Schriftsteller die Worte ein. Der Roman wird großartig werden. Ganz bestimmt. Der Verleger wird ihn aus den Händen reißen. Ein kapitaler Hirsch.
Ohne Hände #Grimm
Nicht widersteht der Vater dem Teufel. Verraten hat, in seiner Gier, der Vater die Tochter. Die Hände abhacken er ihr, aus Feigheit, aus Angst, nicht opfert sich. Der eigenen Tochter die Hände abhackt, nicht selbst sich richtet. Die Tränen nicht geholfen haben ihr doch fern sie findet die Hände verschnürt auf dem Rücken das Glück im Garten, verstümmelt und doch das Glück
Gewiss doch des Glücks
Verloren, das Paradies, verloren, Erinnerungen der Kindheit, Erinnerungen. Eingedenk des Vergangenen, eingedenk des Grauens, verloren das unschuldige Paradies. Hat Huchel das Paradies verloren, das Kinderglück, die Geborgenheit, die Freude über den Gesang der Vögel, im glücklichen Garten wuchs das zarte Gras. Erinnerungen, unsicher und doch gewiss, gewiss nicht der Namen, gewiss nicht der Orte, gewiss doch des Glücks, des Glücks in einem wundervollen Garten geborgen gewesen zu sein.
Peter Huchel, Der glückliche Garten, 1948