Täglich ging sie hinunter und wieder hinauf. Manchmal pfiff der Wind. Manchmal sie. Früher hatte sie nicht gezählt, wie oft sie rauf und runter und wieder rauf gelaufen war. Heute teilte sie sich die Wege genau ein. Jede Stufe zählte sie. Das Knarzen der Dielenbretter zählte sie. Sie wohnt im zweiten Stock. Seit Jahrzehnten. Schon als Kind hatte sie hier gelebt. München. Westend. Nichts Besonderes. Kein großes Leben. Wie durch ein Wunder war das Haus im Krieg nicht groß zerstört worden. Fast als einzigstes Haus in der Straße. Nur das Dach hatte nicht gut ausgesehen. Der Dachstuhl war teilweise ausgebrannt. Zum Glück war das Feuer nicht weiter gegangen. Konnte gelöscht werden. Im Hinterhof hatte sie früher mit ihren Geschwistern gespielt. Viele Schuppen. Ein paar Bäume. Die große Welt. Kinderglück. Bis Mutter zum Abendessen rief. Vom Balkon aus sah sie gern den Kindern zu. Als würde sie selber noch rumhüpfen können. Oft waren ihre Füße dick. Wasser. Das Herz war nicht mehr das jüngste. Das Treppenhaus hatte alte Stiegen. Bunte Farbe an den Wänden. Mitunter kam der Putz runter. Das Geländer war geschmiedet. Als Kind war sie runtergerutscht. Nicht immer gut gelandet.
Im Krieg waren sie bei Verwandte untergekommen. Auf dem Land. Allgäu. Da hatte es genug zum Essen gegeben. Heute brauchte sie nicht mehr viel. Einmal am Tag ging sie zum Einkaufen. Die Treppe runter. Vergessen durfte sie nichts. Zwei Mal schaffte sie die Treppe nicht mehr gut. Nur wenn es gar nicht anderes ging. Die Luft wurde knapp beim Raufgehen. Zum Glück gab es in der Nähe einen kleinen Supermarkt. Der hatte alles, was sie brauchte. Manchmal halfen Nachbarn beim Tragen. Dann ging es leichter. Das Holz der Stiegen war ziemlich ausgetreten und knarzte bei jedem Schritt. In letzter Zeit hatte sie jetzt immer Turnschuhe an. Hatte der Enkel ihr geschenkt. Kleid und Turnschuhe. Sprünge machte sie trotzdem keine damit. Der Enkel war jetzt schon groß geworden. Verdiente sein eigenes Geld. Er kam öfters vorbei. Wenn er kam, hatte sie mehr Hunger. Manchmal brachte er seine Freundin mit. Gern würde sie noch Uroma werden. Doch sie sagte nichts. Der Junge war glücklich. Auf dem Balkon zupfte sie gern an den Geranien. Die brachte immer der Enkel mit. Immer im Frühjahr. Immer im Mai. Nicht vor den Eisheiligen. Im ersten Stock wohnten zwei Familien. Sie verstand nicht immer, was sie sprachen. Die Musik kannte sie auch nicht. Doch letzten Sommer hatte es ein Hausfest gegeben. Zum ersten Mal seit ewiger Zeit. Und die Nachbarn hatten sie gebeten zu kommen. Sie ist lang im Hinterhof gesessen. Hat von ihrer Familie erzählt. Ihr Bruder war gefallen. Im Krieg. Mit 23 Jahren. Ihr Mann lang in Gefangenschaft gewesen. Russland. Sibirien. War keine schöne Zeit gewesen. Nicht für ihn. Nicht für sie. Aus Ostanatolien kamen die Nachbarn. Haben auch vom Krieg erzählt. Dann haben sie getrunken und gelacht. Echte Zähne hat sie schon lange keine mehr. Aber auf dem Foto sieht sie sich mit einem wunderbaren Lachen. Bald wird sie 90. Der Enkel will ein großes Fest organisieren. Sie hat ja gesagt, aber nur, wenn die Nachbarn eingeladen werden. Sie wird sich ein neues Kleid kaufen. Eins mit Blumen. Sie liebt Blumen. Vielleicht wird sie tanzen. Mit ihren Nachbarn. Essen. Trinken. Die Nacht durch reden. Die Stufen waren ihr heute schwer gefallen.